«Es hat zu gut funktioniert»

Martin Hirzel weiss, was die Schweizer Industrie beschäftigt. Seit 2021 ist der Dreiundfünfzigjährige Präsident von Swissmem. Der Verband der Schweizer Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie zählt 1250 Unternehmen als Mitglieder. Von Konzernen wie ABB, Bucher und Georg Fischer bis hin zu KMU. Im Gespräch erläutert Hirzel, wie sich die Schweizer Industrie dem sich verändernden geopolitischen Umfeld anpasst, wie wichtig der Produktionsstandort China ist und was es braucht, damit der Industriestandort Schweiz weiter floriert. Hirzel kennt die Industrie im In- und Ausland aus eigener Erfahrung. Von 2011 bis 2019 führte er den Automobilzulieferer Autoneum und war davor für Rieter sieben Jahre in China sowie vier in Brasilien.

Herr Hirzel, wie stark beschäftigt Reshoring Swissmem-Unternehmen?

Reshoring erkennen wir nicht als Trend. Ein grosses Thema ist hingegen die Diversifikation der Lieferketten mit Fokus auf Resilienz. Vielleicht waren wir ein bisschen naiv – es hat einfach zu gut funktioniert. Just-in-Time, Best-Cost-Country. Alles ging reibungslos. Da wurde man in gewissen Unternehmen vielleicht ein bisschen nachlässig bei der Diversifikation der Lieferketten.

Wie reagieren Unternehmen darauf?

Unternehmen schauen sich nach einem Zweit- oder Drittlieferanten um. Ich höre auch von Schweizer KMU, die angefragt wurden, als Zweitlieferanten im Sinn einer Notfalllösung zu dienen. Nicht die grosse Serie. Aber immerhin.

Bauen Unternehmen auch neue Kapazitäten auf?

Den Aufbau von neuen oder zusätzlichen Produktionskapazitäten in einem Drittland erlebe ich sehr wohl. Vor allem auch bezüglich einer Alternative zu China. Dass man nicht alle Eier in denselben Korb legt, ist eine Binsenweisheit. Zudem fühlen sich Unternehmen aufgrund der geopolitischen
Situation verunsichert.

Was raten Sie Unternehmen diesbezüglich?

Wir empfehlen Unternehmen, sich von China sowohl bezüglich Lieferketten als auch wirtschaftlich unabhängiger zu machen. Es kann nicht sein, dass sich ein Unternehmen ausschliesslich aus einem einzigen Werk in China beliefern lässt. Zudem muss sichergestellt werden, dass nicht alle Erträge in China erwirtschaftet werden. Unternehmen müssen sicherstellen, dass sie im Notfall auch nur mit den Märkten in Europa und den USA überleben können.

Was heisst das konkret?

Dass man weiter den US-Markt bearbeitet oder beispielsweise ein Produkt als erstes in Europa lanciert, um wirtschaftlich unabhängiger zu sein. Man muss sich auch so aufstellen, dass die Lieferketten sowie die eigenen Produktionskapazitäten nicht nur auf Standorten in China basieren.

Ziehen sich Unternehmen aus China zurück?

Der aktuelle Ansatz lautet «China für China». Der chinesische Markt ist so gross und wichtig, darauf kann ein global agierendes Unternehmen kaum verzichten. «China für China» findet statt. Viele Firmen investieren zurzeit in China. Aus Gründen der Diversifikation und auch wegen den steigenden Kosten dient China aber nicht mehr so sehr als Exporthub. Hier sehe ich vor allem Länder wie Indien, Malaysia, Vietnam oder vielleicht auch Indonesien und Thailand im Vorteil.

Kann die Werkbank China ersetzt werden?

Ich habe sieben Jahre in China gearbeitet. China ist ein hervorragender Produktionsstandort. Es gibt genügend gut ausgebildete Arbeitskräfte, eine Topinfrastruktur, ein gutes Lieferantennetzwerk, hilfsbereite und zuvorkommende lokale Behörden in den Industrieparks.

Gibt es etwas Vergleichbares zu China?

Das ist erst im Aufbau. Ich war kürzlich in Indien. Es gibt genügend Menschen, aber der Ausbildungs- und der Industrialisierungsstand sind nicht vergleichbar mit China. Auch die Bürokratie dort ist nervig.

In welchem Bereich ist die Verlagerungen aus China am weitesten?

Ich sehe sie nur in einem Bereich: In der Textilindustrie. Das wirkt sich bei uns direkt auf die Textilmaschinenhersteller aus. Der Konsumentendruck sowie die Zertifizierungsthemen bei der Textillieferkette spielen eine grosse Rolle. Konzerne wie H&M und Inditex wollen beispielsweise keine Baumwolle oder Garne mehr aus China. Die Alternativen sind Bangladesch, Pakistan, Usbekistan.

Inwiefern spielen Subventionen eine Rolle für den Aufbau von Produktionskapazitäten?

Das sind Gründe, die es begünstigen, in Europa oder den USA zu produzieren. In den USA ist es der Inflation Reduction Act. In Europa der Green Deal. Diese Subventionen fördern die heimischen Produkte. Auch niedrigere Energiekosten spielen eine Rolle.

Ohne Subventionen sind Unternehmen in der Schweiz im Nachteil.

Wir haben in den vergangenen Dekaden gezeigt, dass die Schweiz ohne Industriepolitik besser fährt. Vergleicht man die Schweiz mit Frankreich oder England, wo viel Geld in den Strukturerhalt investiert wurde, geschah genau das Gegenteil, als was man mit der Industriepolitik ursprünglich bezweckte. Die Zahl der Stellen sank und die Produktivitätssteigerung liegt unter derjenigen der Schweiz. Ein Strukturwandel kann schmerzhaft sein, langfristig ist er aber für die gesamte Volkswirtschaft von Vorteil. In der Ostschweiz wird nicht mehr Baumwolle versponnen, dafür gibt es nun eine SFS oder eine Stadler Rail mit besser bezahlten, sicheren und attraktiveren Jobs. Mit Subventionen stülpt man eine Käseglocke über eine Branche – zum Nachteil der Konsumenten. Für einen Politiker ist das attraktiv, weil er kurzfristig und öffentlichkeitswirksam Stellen rettet. Langfristig bezahlt aber der Steuerzahler für eine verfehlte Politik. Schweizer Unternehmen können von den Subventionen im Ausland aber auch profitieren, wenn sie beispielsweise in Europa produzieren.

Sehen sie bei den Rahmenbedingungen dennoch Handlungsbedarf?

Die Schweizer Tech-Industrie, also die Maschinen-, Elektro- und Metall-Industrie sowie verwandte Technologiebranchen, muss exportieren können. 80% unserer Güter und Dienstleistungen gehen in den Export. Ohne Exporte gibt es in der Schweiz keine Industrie. Dafür benötigen wir die Weiterentwicklung des bilateralen Weges mit der Europäischen Union. Zudem brauchen wir Freihandelsabkommen. Wir haben schon einige, die man teils noch aktualisieren muss, wie das Abkommen mit China. Auf der Liste stehen zudem Mercosur, Indien und Thailand. Ein anderer Punkt ist die Energie. Wir brauchen keine subventionierte Energiepreise, aber wir müssen in der Schweiz so rasch wie möglich die Stromproduktion erhöhen, um die Versorgungssicherheit zu verbessern.

Wie wichtig sind die Energiekosten für Schweizer Industrieunternehmen?

Grossmehrheitlich sind wir keine energieintensive Branche. Die Stromkosten machen im Mittel 3% der Kosten aus. Damit können wir umgehen. Aber wir brauchen eine unterbruchsfreie Stromversorgung. Und wir brauchen wettbewerbsfähige Preise.

Gibt es auch Ausnahmen?

Bei den energieintensiven Unternehmen wie Stahlwerken, Aluminiumwerken oder Giessereien machen Energiekosten mehr als 10% aus und damit mehr als die Lohnkosten. Diese stehen im Wettbewerb mit Konkurrenten aus der Europäischen Union, die von subventionierten Energiepreisen profitieren. Das bedeutet einen krassen Wettbewerbsnachteil für Schweizer Betriebe. Hier muss lokal eine Lösung gefunden werden. Wenn wie angekündigt die Netzzuschläge nochmals steigen, ohne Ausnahmen für Stromintensive, dann ist das für diese Firmen existenzgefährdend.

Das Interview führte Martin Lüscher, Research Analyst bei der acrevis Bank AG